
Col-Hopping im Drop-Bar-Stil: Wie Gravelbiken das alpine Fahren neu definiert hat
Es beginnt wie ein Flüstern — das Knirschen der Reifen auf festem Schotter, das Surren eines 1x-Antriebs, der Atem eines Fahrers, der einen Pass ohne Autos überquert. Es ist weder Rennrad noch Mountainbike, und es erobert die Hochalpen mit Überzeugung. Gravelbiken, einst ein Randphänomen, schreibt nun das Buch über die Erkundung von Europas größtem Terrain neu.
Alpines Gravel ist keine Modeerscheinung. Es ist eine Disziplin — und zunehmend eine Philosophie. Für diejenigen mit Beinen, Lunge und Liebe zum Mischuntergrund bieten die Alpen nun einen Spielplatz aus unbefestigten Pässen, historischen Militärstraßen und Hochgebirgsschleifen, die einst Trailrunnern und Geländewagen vorbehalten waren.
Ein Großteil der alpinen Gravel-Infrastruktur Europas wurde nicht für Fahrräder gebaut. Routen wie die Strada dell’Assietta im Piemont oder die alte Albula-Passstraße in Graubünden wurden aus strategischen, landwirtschaftlichen oder frühen touristischen Gründen angelegt.
„Diese Straßen wurden für Maultiere und Konvois gebaut, nicht für Antriebe“, sagt der Schweizer Radfahrer und Fotograf Jeroen Maris, der seit 2017 alpines Gravel dokumentiert.
Die Strada dell’Assietta, die sich etwa 50 km in Höhenlagen über 2.000 m erstreckt, dient heute als Kronjuwel für Gravel-Events wie die Torino-Nice Rally. Sie ist rau, aber nicht brutal — eine Linie, die alpines Gravel definiert.
Andernorts bietet der Col du Joly in Frankreich einen rollenden Gravel-Anstieg durch Wiesen und Skilift-Narben, während der Ofenpass in der Schweiz mit gravelgeeignetem Schotter-Singletrail ins Val Müstair verbunden werden kann. Das sind keine Rennradtouren. Es sind Strecken, die Linienwahl, Übersetzungsurteil und Appetit auf Wellblechabfahrten verlangen.
Rennradfahren in den Alpen bleibt ikonisch, ist aber zunehmend umkämpft. Sommerlicher Verkehr, aggressive Autofahrer und die Popularität von Col-Bagging-Apps haben die Klassiker verstopft.
„Der Galibier im Juli ist ein Peloton von Wohnmobilen“, sagt Ulrich König, Guide und Ex-Profi aus Innsbruck. „Gravel erlaubt dir, seitlich aus dem Zirkus auszusteigen.“
Die Technik hat ebenfalls aufgeholt. Mit leichten Carbonrahmen, Tubeless-Reifen und 50/34-Kompaktkurbeln oder Mullet-Setups (Rennrad vorne, MTB hinten) können Fahrer nun 15 % Gravelrampen erklimmen und abfahren, ohne Felgen oder Wirbel zu zerbrechen.
„Es ist Freiheit, nicht Reibung“, sagt König. „Du kannst während der Tour umplanen, auf eine Forststraße abbiegen und trotzdem 2.500 m an einem Tag schaffen.“
Der Pandemie-Boom an Bikepacking-Ausrüstung (Lenkertaschen, Rahmentaschen, Dropper-Posts an Rennradlenkern) machte längere alpine Abenteuer praktikabler. Was früher Nische war, ist nun kuratiert: Apps wie Komoot, RideWithGPS und Gravelmap listen verifizierte alpine Gravel-Segmente, oft mit Belagsbewertungen.
Es gibt eine neue Generation von Radfahrern, die Pässe sammelt — nicht für KOMs oder Gipfelschilder, sondern für die Befriedigung, abgelegene Übergänge in einem sauberen Bogen zu verbinden. Hier drei alpine Gravel-Routen, die stark an Popularität gewinnen:
- Albula Gravel Triangle (Graubünden, CH): Überwiegend unbefestigtes Dreieck zwischen Preda, Naz und dem Albulapass-Gipfel, mit optionaler Abfahrt nach Bever.
- Furka–Grimsel-Link (UR/VS, CH): Eine ehrgeizige Traverse, die Gravel-Abkürzungen zwischen den asphaltierten Giganten nutzt. Riskant bei Nässe, herrlich im Frühherbst.
- Colle delle Finestre–Assietta (ITA): Vielleicht die legendärste alpine Gravel-Kombination. 1.700 m Anstieg, Straßen aus dem Zweiten Weltkrieg, Panoramakämme. Wochenenden meiden.
Gravel-Ausrüstung für die Höhe
Gravelbikes für alpine Bedingungen brauchen mehr als dicke Reifen und schicke Lackierung. Wichtige Entscheidungen sind:
- Bremsen: Hydraulische Scheiben sind auf alpinen Abfahrten über 20 km unverzichtbar.
- Reifen: 38–45c Tubeless mit Seitenwandschutz. Vittoria Terreno Dry, Schwalbe G-One RS und Pirelli Cinturato Gravel M schneiden gut ab.
- Antrieb: SRAM XPLR oder Shimano GRX. Breite Kassetten (10–44) bevorzugt.
- Stauraum: Rahmentaschen oder Satteltaschen statt Rucksack, um den Schwerpunkt niedrig zu halten.
Tester von Gravel Cyclist und BikeRadar stellten fest, dass die meisten Carbon-Gravelrahmen mehrtägige Alpentouren mit moderater Beladung aushalten — allerdings könnte Alu besser für abgelegene Strecken mit unvorhersehbarem Terrain geeignet sein.
Die alpine Gravel-Szene ist noch im Entstehen, und genau das macht ihren Reiz aus. Kleine Treffen, Routen-Sharing per WhatsApp und Café-Tipps dominieren. Events wie das Jura Gravel oder Alps Divide sind zurückhaltend, wachsen aber.
„Es gibt kein Protzen“, sagt Lucie Rey, Gründerin von Gravel Chérie, einem schweizerisch-französischen Frauen-Gravel-Kollektiv. „Es ist leises Selbstvertrauen. Jeder hat Kratzer am Oberrohr.“
Einige Skigebiete testen sogar sommerliche Gravel-Events. Verbier veranstaltete 2024 seine erste Summit-to-Summit-Gravel-Schleife. Die Region Andermatt–Oberalp–Surselva prüft Multisurface-Schleifen, um Fahrer in der Nebensaison anzuziehen (Tourismus Graubünden Bericht, 2024).
Eine neue Art von Höhenmetern
Gravel in den Alpen ist nicht sanfter als Rennrad oder MTB — es ist einfach vielschichtiger. Es verwischt die Grenzen zwischen Erkundung und Anstrengung, zwischen Kartenlesen und Muskelgedächtnis. Es ist für diejenigen, die sich mehr darum kümmern, wo sie waren, als wie schnell sie dort waren.
Und in einer Landschaft, in der Gletscher zurückweichen und Straßen verstopfen, könnte es die zukunftssicherste Art sein, hoch zu fahren.





